Mayer studierte Rechts- und Staatswissenschaft, Geschichte und Musik in Köln, Bonn und Berlin und wurde 1930 bei Hans Kelsen in Köln mit der Dissertation Die Krise der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends zum Dr. jur. promoviert. Gleichzeitig schloss er sich der SPD an und arbeitete an der Zeitschrift Der Rote Kämpfer mit. Ende 1931 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der SAPD, aus der er ein Jahr später wegen seiner Sympathie zur KPD-O wieder ausgeschlossen wurde. Da er Jude und Marxist war, erhielt er nach der NS-Machtübernahme im Juli 1933 ein Berufsverbot. Mayer floh im August nach Frankreich und fungierte dort kurzzeitig als Chefredakteur der Neuen Welt, der Tageszeitung der KPO-Elsass. 1934 übersiedelte er nach Genf. Hier erhielt er als Sozialforscher Arbeitsaufträge von Hans Kelsen und Max Horkheimer. 1935 verließ er die KPD-O. Carl Jacob Burckhardt beeinflusste in dieser Zeit seine literaturwissenschaftlichen Vorstellungen.
In seinen Genfer Jahren lebte Mayer seine Homosexualität zunächst offen aus, wurde aber nach einer Gesetzesverschärfung 1942 wiederholt in Strafanstalten interniert und lebte bis zur Ausreise im November 1945 in Flüchtlingslagern.[3] Zu seinem 100. Geburtstag am 19. März 2007 widmete ihm das Schwule Museum Berlin eine Ausstellung unter dem Titel Außenseiter: Hans Mayer.[4]
„Ich glaube, der Beifall beweist, dass auch ein Kurzreferat mit These und Antithese eine starke Zustimmung und innere Erregung auszulösen vermag. Wir haben ganz verschiedene Möglichkeiten in der Form, wie Dr. Hans Mayer sein Referat aufgebaut und vorgestellt hat, eine geistig kristallklare Formulierung und Zuspitzung, Gestaltung des Problems zu schaffen.“[5]
Im März 1949 hielt er die Festansprache im Deutschen Nationaltheater Weimar anlässlich Goethes 200. Geburtstags.[6] In Leipzig nahm er eine Professur für Literaturwissenschaft an und wurde zum einflussreichen Kritiker der neueren deutschen Literatur. Anders als den meisten DDR-Bürgern war es ihm möglich, zwischen der ost- und der westdeutschen Welt zu wechseln. Im Osten wirkte er durch seine Vorlesungen und Gesprächskreise, in Westdeutschland wurde er zu einem gern gesehenen Gast bei den Tagungen der Gruppe 47. Mayer stand in dieser Zeit auch mit Bertolt Brecht in Kontakt.
Ab 1956 war sein Verhältnis zu den Machthabern der DDR von immer stärker werdenden Reibereien geprägt. 1963 kehrte Mayer nach einem Verlagsbesuch in Tübingen nicht in die DDR zurück. Zwischen 1964 und 1967 moderierte er zusammen mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki die Rundfunk- und auch Fernsehsendung Das literarische Kaffeehaus. 1965 wurde er auf einen neu eingerichteten Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Technischen Hochschule Hannover berufen. Diesen hatte er bis zu seiner Emeritierung 1973 inne. Mayer ließ sich aus Protest vorzeitig emeritieren, da das niedersächsische Kultusministerium sich gegen seinen von Fakultät und Senat unterstützten Vorschlag entschied, Fritz J. Raddatz als Professor für neuere und neueste Literatur zu berufen.[7] Danach lebte Mayer als Honorarprofessor in Tübingen. Im Alter verließen ihn seine Sehkräfte. Da es ihm noch möglich war, seine Texte zu diktieren, konnte er dennoch noch lange publizistisch tätig bleiben.
Hans Mayer starb zwei Monate nach seinem 94. Geburtstag in Tübingen, nachdem er sich mit dem Satz „Es ist genug“ selbst verordnet hatte, zu leben aufzuhören, indem er keine Nahrung und keine Flüssigkeit mehr zu sich nahm – so sein Schüler Fritz J. Raddatz.[8] Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
1935 begann er im Exil mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner. Diese Arbeit wurde später von der Universität Leipzig als Habilitationsschrift anerkannt. 1962 brachte er die Aufsatzsammlung Zur deutschen Literatur der Zeit heraus. 1986 ließ er diesem Band das Buch Das unglückliche Bewusstsein – Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine folgen. Unter dem Titel Ein Deutscher auf Widerruf veröffentlichte er 1982 seine zwei Bände umfassenden Memoiren.
Die 1975 erschienene Untersuchung Außenseiter wird von manchen als sein Hauptwerk betrachtet. In diesem Band beschäftigt er sich mit der literarischen Darstellung dreier Gruppen, die in der Geschichte häufig diskriminiert wurden: Frauen, männliche Homosexuelle und Juden. Der Turm von Babel aus dem Jahr 1991 ist ein Nachruf auf die DDR. Als Kernsatz wird häufig gesehen: „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang“. Die DDR war für ihn über lange Zeit hinweg der bessere der beiden deutschen Staaten gewesen. Sein letztes Buch sind die Erinnerungen an Willy Brandt von 2001.
Rezeption und Ehrungen
Bei Würdigungen der Arbeit Mayers werden häufig diese Punkte hervorgehoben:
Hans Mayer gehört nach Walter Benjamin, der ebenfalls mit ihm am Collège de Sociologie war, und neben Reinhard Baumgart zu den bedeutenden Literaturkritikern des 20. Jahrhunderts, die sich der Literatur aus einer analytischen Perspektive näherten. Anders als Benjamin, der sich gleichfalls als Literaturtheoretiker von Rang hervortat, war Mayer ein literaturhistorisch orientierter Kritiker.
Im Juni 2018 wurde die Hans-Mayer-Gesellschaft gegründet. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den literarischen, kulturpolitischen und politischen Denker Hans Mayer erneut ins Bewusstsein und Denken der Gegenwart zu bringen.[11]
Abermals: „Deutschland und die Deutschen.“ 1991. In: Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen (= EVA-Reden. Band 1). 1945. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992, ISBN 3-434-50101-0, S. 41–66.
Wendezeiten – Über Deutsche und Deutschland. Suhrkamp, 1993.
Der Widerruf. Über Deutsche und Juden. 1994.
Brecht. Suhrkamp, 1996.
Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-40963-8.
Gelebte Musik. Erinnerungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-41040-7.
Erinnerungen an Willy Brandt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-41222-1.
Zwischen 1954 und 1976 gab Hans Mayer Werke der älteren und neueren deutschen Literaturkritik heraus. Als einheitliche Ausgabe erschienen diese unter dem Titel:
Deutsche Literaturkritik. Verlag Henry Goverts, Stuttgart und Frankfurt 1962–76, DNB550855793.
Band I: Meisterwerke deutscher Literaturkritik. Aufklärung, Klassik, Romantik.
Band II: Deutsche Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Von Heine bis Mehring.
Band III: Deutsche Literaturkritik im zwanzigsten Jahrhundert. Kaiserreich, Erster Weltkrieg und erste Nachkriegszeit (1889–1933).
Band IV, 1 und 2: Deutsche Literaturkritik der Gegenwart. Vorkrieg, Zweiter Weltkrieg und zweite Nachkriegszeit (1933–1968).
Literatur und Film
Olaf Ihlau: Die Roten Kämpfer. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“. Meisenheim am Glan 1969. Reprint: (= Politladen-Reprint. No. 8). Verlag Politladen, Erlangen 1971, ISBN 3-920531-07-8 (Diss., Univ. Marburg).
Volker Ladenthin: Hans Mayer und das „Unglückliche Bewußtsein“. In: Volker Ladenthin: Moderne Literatur und Bildung. Zur Bestimmung des spezifischen Bildungsbeitrags moderner Literatur (= Hildesheimer Beiträge zu den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Band 34): Olms, Hildesheim/Zürich/New York 1991, ISBN 3-487-09504-1, S. 136–161.
Marcel Reich-Ranicki: Hans Mayer – Der beredsame Gelehrte. In: Ders.: Die Anwälte der Literatur (= dtv. Band 12185). Ungekürzte Ausgabe. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1996, ISBN 3-423-12185-8, S. 251–269.
Alfred Klein: Heimat auf Zeit. Hans Mayer an der Universität Leipzig. In: Utopie kreativ. Heft 77, März 1997, S. 29–45 (rosalux.de [PDF; 86 kB]).
Ein Deutscher auf Widerruf – Hans Mayer zum 90. Film von Claus Spahn, WDR 1997.[13]
Thomas Grimm: Hans Mayer. Galgenvogel im kältesten Stalinismus. In: Linke Vaterlandsgesellen. Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepasste. Parthas Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-932529-39-1, S. 150–168.
Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie 1937–1939. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-532-0 (Zugl.: Bremen, Univ., Habil.-Schr., 2005. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
Günter Hefler: Hans Mayer. In: Robert Walter, Clemens Jabloner, Klaus Zeleny (Hrsg.): Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre (= Schriftenreihe des Hans-Kelsen-Instituts. Band 30). Manz, Wien 2008, ISBN 978-3-214-07676-4, S. 293–314.
Heinrich Bleicher (Hrsg.): Der unbequeme Aufklärer. Gespräche über Hans Mayer. 2., überarbeitete Auflage. Talheimer Verlag, Mössingen-Talheim 2022, ISBN 978-3-89376-195-1.
↑Hans Mayer. In: Professoren der Universität Leipzig 1945–1993. Suche nach Professoren mit Pseudonymen. AG „Senioren und Internet“, 1. Dezember 2015, abgerufen am 3. Mai 2023 (mit Link zum PDF; 177 kB).
↑Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie 1937–1939. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-532-0 (Zugl.: Bremen, Univ., Habil.-Schr., 2005. eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
↑Ernst Ostertag: Hans Mayer. In: schwulengeschichte.ch, Verein schwulengeschichte.ch (Zürich), März 2007, abgerufen am 3. Mai 2023.
↑Ursula Reinhold, Dieter Schlenstedt, Horst Tanneberger (Hrsg.): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.–8. Oktober 1947. Protokoll und Dokumente. Aufbau Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-351-01883-5.
↑Thema der im Deutschen Rundfunkarchiv (Signatur 2042191) als O-Ton überlieferten Rede: Spiegelungen Goethes in der Gegenwart.