Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement DeutschlandsDie Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ des Deutschen Bundestags unter Vorsitz von Michael Müller (SPD) befasst sich mit dem deutschen Beitrag zu den internationalen Stabilisierungsmissionen in Afghanistan während des Krieges zwischen 2001 und 2021. Die konstituierende Sitzung fand am 19. September 2022 statt.[1] Ein Zwischenbericht wurde am 22. Februar 2024 im Bundestag beraten.[2] Der Abschlussbericht mit Handlungsempfehlungen sollte spätestens im Herbst 2024 vorliegen,[3] im Februar 2024 wurde die Arbeit der Kommission vom Bundestag auch über die parlamentarische Sommerpause 2024 hinaus verlängert.[2] HintergrundDie Einsetzung der Enquete-Kommission wurde auf gemeinsamen Antrag[4] der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ohne Zustimmung von AfD und Die Linke am 8. Juli 2022 im beschlossen.[5] Zeitgleich wurde vom Bundestag ein Untersuchungsausschuss, der 1. Untersuchungsausschuss der 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, eingesetzt, der sich ausschließlich mit den Umständen und Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehrtruppen aus Afghanistan und den Evakuierungen infolge des Vormarsches der Taliban und der daraufhin „überstürzten Beendigung des internationalen Einsatzes“[4] beschäftigt. Im Februar 2024 wurde die Arbeit der Kommission, erneut auf Antrag[6] der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP jedoch unter ausschließlicher Enthaltung der Gruppen Die Linke und BSW, vom Deutschen Bundestag auch über die parlamentarische Sommerpause 2024 hinaus verlängert. Die Arbeit der Kommission soll nunmehr „möglichst bis Ende des Jahres 2024“ abgeschlossen werden.[2] AuftragGemäß des Antrages[4] hat die Kommission den Auftrag, „den Vernetzten [sic] Ansatz am Beispiel des Engagements in Afghanistan und dabei insbesondere die Einsätze der Bundeswehr sowie die damit verbundenen Herausforderungen zu untersuchen und Lehren aus dem zwanzigjährigen Engagement in Afghanistan aufzuarbeiten, auch um daraus Schlüsse für das laufende und künftige internationale militärische und zivile Engagements Deutschlands zu ziehen“. In der Erörterung der Ausgangslage wird der den gesamten Einsatz Deutschlands maßgeblich geprägt habende vernetzte Ansatz als die „Koordinierung und Abstimmung von militärischen, polizeilichen, diplomatischen, entwicklungspolitischen und humanitären Ressourcen“ definiert. Darüber hinaus wird das militärische Engagement konkret mit den internationalen Missionen Enduring Freedom, ISAF und Resolute Support benannt, das zivile Engagement mit „intensive[n] diplomatische[n] und entwicklungspolitische[n] Bemühungen“ umschrieben. Mit Blick auf die unterschiedlichen Phasen sollen die gesetzten Ziele und vordergründig deren Erreichen analysiert und die Verzahnung und gegenseitige Beeinflussung der folgenden Bereiche betrachtet werden:
Auf Grundlage dieser Analysen sollen Empfehlungen für eine künftige „effiziente, kohärente und umfassende Kooperation und Kommunikation zwischen den beteiligten Ressorts“ sowie „Schlussfolgerungen für den Informationsaustausch und die Kooperation auf internationaler und europäischer Ebene“ formuliert werden. MitgliederDie Kommission setzte sich ursprünglich aus zwölf Abgeordneten und zwölf berufenen Sachverständigen, die von den sechs zu der Zeit im Bundestag vertretenen Fraktionen benannt wurden, zusammen. Der Abgeordnete der Fraktion Die Linke sowie der von der Fraktion nominierte Sachverständige schied mit deren Auflösung im Dezember 2023[7] aus der Kommission aus. Die Mitglieder der Kommission werden vom einem Sekretariat der Bundestagsverwaltung unterstützt,[8] in dem auch drei wissenschaftliche Mitarbeiter die Analysen der Kommission unterstützen. BundestagDie Fraktionen von SDP und CDU/CSU stellen jeweils drei, Bündnis 90/Die Grünen und FDP je zwei sowie die der AfD einen Abgeordneten. SPD
Stellvertretende Mitglieder: Lars Castellucci (bis 21. November 2022), Hakan Demir (ab 13. Dezember 2023), Aydan Özoğuz, Nadja Sthamer, Sebastian Fiedler (21. November 2022 bis 13. Dezember 2023)[9] CDU/CSU
Stellvertretende Mitglieder: Michael Brand, Marlon Bröhr, Katja Leikert Bündnis 90/Die Grünen
Stellvertretende Mitglieder: Deborah Düring, Merle Spellerberg FDP
Stellvertretende Mitglieder: Ann-Veruschka Jurisch, Frank Müller-Rosentritt AfD
Stellvertretendes Mitglied: Joachim Wundrak Die Linke (bis Dezember 2023)
Stellvertretendes Mitglied: Heidi Reichinnek (bis 10.05.2023)[9] SachverständigeIm gleichen Verhältnis zu den Abgeordneten entsenden die Fraktionen von SPD und CDU/CSU jeweils drei, Bündnis 90/Die Grünen und FDP je zwei sowie AfD und Die Linke je einen Sachverständigen.[10] SPD
CDU/CSU
Bündnis 90/Die Grünen
FDP
AfD
Die Linke (bis Dezember 2023)
1. Arbeitsphase: Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes 2001–2021ProjektgruppenDie Kommission hatte in ihrer ersten Arbeitsphase drei Projektgruppen mit jeweils neun Mitgliedern eingesetzt.[14] Die erste Arbeitsphase endete mit dem Anfang 2024 vorgestellten Zwischenbericht. Sicherheit und StabilisierungDie Projektgruppe 1 untersuchte die Kampfverläufe und geht den Fragen nach der ausreichenden Vorbereitung und Ausstattung der Bundeswehr sowie der Angemessenheit der Reaktion der Bundesregierung auf Mängel nach. Darüber hinaus widmete sie sich der Information des Bundestages und dessen Kontrollfunktion.[15] Ziviler Aufbau und FriedensförderungDie Projektgruppe 2 untersuchte den deutschen Beitrag zum zivilen Aufbau (z. B. von Schulen und Hochschulen, wissenschaftlichen Einrichtungen oder unabhängigen Medien) und zur Friedensförderung (innerafghanisch wie diplomatisch) sowie eventuelle Versäumnisse in diesen Zusammenhängen.[16] Staats- und RegierungsaufbauDie Projektgruppe 3 untersuchte den Staats- und Regierungsaufbau in Bezug auf zu Beginn vorhandener staatlicher Strukturen in Afghanistan sowie in finanzieller Hinsicht den Aufbau von Infrastruktur, Sozialsystemen und Versorgungsstrukturen (u. a. Energie, Verkehr und Gesundheit).[17] AnhörungenVon ihrer Einsetzung bis zum Zwischenbericht im Februar 2024 fanden insgesamt 35 Sitzungen[18], davon 12 öffentliche Anhörungen[19] statt. Diese orientierten sich hauptsächlich am zeitlichen Verlauf des deutschen Einsatzes in Afghanistan:
Darüber hinaus gab es zwei Anhörungen zu den „politischen Verantwortungsstrukturen“ der Legislative und Exekutive Deutschlands:
sowie eine abschließende Anhörung zu den Themenbereichen Evaluierung und Schlussfolgerung:
ZwischenberichtEin Zwischenbericht mit den Ergebnissen der ersten Arbeitsphase zur Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes wurde am 20. Februar 2024 an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übergeben.[31] Am 22. Februar 2024 wird dieser im Bundestag beraten und ein Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf Verlängerung zur Abstimmung gebracht.[3] Hiernach soll die Kommission mehr Zeit und Gelegenheit zu Beratungen und zur Ausgestaltung des Abschlussberichts erhalten.[6] InhaltAuf insgesamt 352 Seiten resümiert der Zwischenbericht[32] die deutsche Beteiligung am Einsatz in Afghanistan und dokumentiert einerseits die analytische Arbeit in den drei Projektgruppen sowie andererseits die gewonnenen Erkenntnisse aus den öffentlichen Anhörungen. In der vorangestellten Kurzfassung stellt die Kommission fest, dass Deutschland und seine internationalen Partner aufgrund des Fehlens einer „langfristigen und […] realistisch umsetzbaren kohärenten Strategie“ bei der Absicherung der Ergebnisse und gesteckten Ziele „strategisch gescheitert“ seien. „Eine fortlaufende, selbstkritische Bestandsaufnahme“ habe weder stattgefunden, noch seien erlangtes „Wissen und detaillierte ungeschminkte Lagebilder […] systematisch zu einem realistischen Gesamtbild zusammengeführt“ worden. Auch habe es an der dynamischen Anpassung personeller Ressourcen, Ausrüstung und Fähigkeiten gemangelt. In Projekte vor Ort sei teilweise zu schnell zu viel Geld geflossen, Lagebewertungen und Beurteilungen von Fortschritten hätten sich „zu oft“ auf größere Städte beschränkt. Die Zusammenarbeit der Fachbereiche habe sich zwar mit der Zeit verbessert, „Ressortegoismen“ wären jedoch nicht überwindbar gewesen. Das Parlament habe sich hauptsächlich auf die Kontrolle und das Militärische konzentriert. Die notwendige „Auseinandersetzung mit der Kultur, Geschichte und den Traditionen Afghanistans“ habe nicht statt- und „[v]orhandene landeskundliche Kenntnisse“ kaum Berücksichtigung gefunden. Damit seien der „neugegründeten afghanischen Republik“ Legitimation und Wirkbreite genommen worden. Darüber hinaus seien Einfluss und Rückhalt der Taliban unterschätzt und eine politische Konfliktlösung „zu spät und nicht ausreichend konsequent“ verfolgt worden. Als „Teilerfolge“ werden eine Verbesserung der Lebensverhältnisse und Fortschritte in den Bereichen Infrastruktur sowie im Gesundheits- und Bildungswesen gewertet. Frauen und Mädchen hätten in der Zeit „von der internationalen Präsenz“ profitiert. RezeptionIn einem Hintergrundbericht von Marc Thörner vermisst Baktash Siawash, politischer Journalist und einstiger Parlamentarier des afghanischen Unterhauses,[33] einen „unabhängigen, afghanischen Blickwinkel“ unter den Sachverständigen, die allesamt als „unbeteiligte Beobachter“ auf die Geschehnisse blickten. Der Vorsitzende der Kommission, Michael Müller, sehe laut Thörner eine „zivilisatorische Mission des Westens“ an einer unveränderbaren afghanischen Kultur gescheitert, was Siawashs Berfürchtung nähre, „[d]ass Denkmuster, die eigentlich dem 19. Jahrhundert angehören, in der Enquete-Kommission ein Comeback erfahren“.[34] Ähnlich kommentiert die Journalistin Jasamin Ulfat-Seddiqzai die Einsetzung der Kommission, konstatiert jedoch, dass es dieser „nicht um Afghanistan“, sondern „um die Lehren, die man aus Afghanistan für zukünftige Auslandseinsätze ziehen kann“, ginge.[35] Nach der öffentlichen Anhörung vom 3. Juli 2023 beklagt Thomas Ruttig, Mitbegründer des Afghanistan Analysts Network, die „konzeptionellen Fehlleistungen, Verdrehungen und Beschönigungen“ seitens der ehemaligen Minister des Äußeren Joschka Fischer, des Inneren Thomas de Maizière und der Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul.[36] Laut einem Vorabbericht des Spiegel habe die Kommission in ihrem Zwischenbericht die amtierenden Bundesregierungen „harsch“ kritisiert und stelle ihnen ein „vernichtendes Urteil“ aus. Sie werfe den Verantwortlichen „mangelnden Realitätssinn, schlechte Abstimmung und jahrelanges Schönreden der Lage“ vor. Die Kritik an der fehlenden Auseinandersetzung mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten sei „brisant“, insbesondere die Taliban unterschätzt worden.[37] Auch Kai Küstner bewertet den „eher von Schatten beherrschten 330-Seiten-Bericht“ grundsätzlich als „vernichtendes Zeugnis“ und „schonungslose Bilanz“, kann in ihm „jedoch auch kleine Lichtinselchen“ entdecken, bspw. in der herausgestellten Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner.[38] 2. Arbeitsphase: Empfehlungen für zukünftige KriseneinsätzeClustergruppenDie Kommission hat in ihrer zweiten Arbeitsphase fünf Clustergruppen mit einer unterschiedlichen Anzahl an Mitgliedern eingesetzt.[14] Diese Clustergruppen sollen Empfehlungen für zukünftige vernetzte Kriseneinsätze formulieren.
Öffentliche AnhörungenVon Februar bis September 2024 führte die Kommission sieben öffentliche Anhörungen[39] zur Unterstützung ihrer Beratungen durch:
AbschlussberichtDie in der zweiten Arbeitsphase in den Clustergruppen erarbeiteten, konkreten Handlungsempfehlungen für die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sind in einem Abschlussbericht zusammengefasst worden. Dieser sollte ursprünglich spätestens nach der parlamentarischen Sommerpause 2024 vorgelegt werden[6] und ist am 27. Januar 2025 erschienen.[47] UntersuchungsausschussDer Deutsche Bundestag setzte 2022 auch den 1. Untersuchungsausschuss der 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ein, der sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehrtruppen aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer Personen im Zeitraum vom 29. Februar 2020 bis zum 30. September 2021 befasst. WeblinksEinzelnachweise
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