Rudolf Mauersberger war der erste Sohn des aus Mildenau (Erzgeb.) stammenden Kantors und Lehrers Ferdinand Oswald Mauersberger[1] in Mauersberg, seinem Heimatdorf im Erzgebirge. Die weiter zurückliegenden musikalischen Wurzeln des Vaters sollen auf böhmische Musikantengeschlechter zurückgehen, die etwa ab dem 17. Jahrhundert in Scharen über die Grenze strebten und sich gleich dahinter ansiedelten.[2][Anm. 1] Von 1895 bis 1902 besuchte er die Dorfschule im Erdgeschoss des von der Familie bewohnten Schulhauses.[3] Ab seinem neunten Lebensjahr fungierte Rudolf Mauersberger, anfangs unter Zuhilfenahme einer Spezial-Kinderfußbank, während der Gottesdienste als Organist.[4] 1902 wechselte er auf die einjährige Seminar-Vorschule in Annaberg und wurde anschließend in der St. Annenkirchekonfirmiert. 1903 bis 1909 setzte er seine Ausbildung auf dem königlichen Lehrerseminar[5] in Annaberg-Buchholz fort und leitete als Präfekt das Seminarorchester. Als „interner Zögling“ hatte er den Hin- und Rückweg zu seiner Familie einmal wöchentlich zu Fuß zurückzulegen.[6]
1930 wurde Mauersberger aus etwa 80 Bewerbern nach Dresden zum Kreuzkantor und Leiter des Dresdner Kreuzchores berufen und trat sein Amt am 1. Juli 1930 an. 1931 erfolgte seine Ernennung zum Kirchenmusikdirektor. In seiner über 40 Jahre dauernden Amtszeit prägte er den Chor wie kein anderer vor ihm und führte ihn auf ein international anerkanntes Niveau.
Zum 1. Mai 1933 trat Mauersberger der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 2.451.659).[7]Hitler verlieh ihm zum 20. April 1938 den Titel Professor.[8] Mauersberger stand 1944 in der Gottbegnadeten-Liste. Wie sein jüngerer Bruder Erhard Mauersberger war Rudolf Mitglied der Deutschen Christen.[9] Älterer Überlieferung zufolge bemühte sich Mauersberger, die Einflüsse der NS-Ideologie vom Kreuzchor fernzuhalten. Die Sänger gehörten zwar geschlossen als „Gefolgschaft“ der Hitler-Jugend[10] an; damit war zugleich aber deren Einfluss begrenzt. Mauersberger weigerte sich, NS-Gesänge mit dem Chor zur Aufführung zu bringen.[11] Stattdessen wurde der christliche Charakter des Chores nicht nur bewahrt, sondern noch stärker akzentuiert.
Kruzianer aus dieser Zeit berichten, dass der Chor nur ein einziges Mal gezwungen war, HJ-Uniformen anzulegen, und zwar bei einer offiziellen Verabschiedung durch die Stadt im Dresdner Hauptbahnhof vor einer Konzertreise in die besetzten Niederlande 1944. Als Mauersberger von dieser Absicht erfuhr, erschien er zur Abfahrt nicht, sondern ließ sich zum nächsten Bahnhof, Dresden-Neustadt, chauffieren und gab beim Zusteigen die Anweisung, die braunen Hemden sofort gegen Zivilkleidung auszuwechseln.
Mauersberger setzte sich über Aufführungsverbote hinweg und bezog Werke jüdischer und verfemter Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Günter Raphael in die Programme des Kreuzchores ein, auch noch im Herbst 1938 auf der zweiten USA-Tournee des Kreuzchores.
Seine Gegnerschaft zu NS-Kulthandlungen motivierte ihn dazu, die Gottesdienste und Vespern in der Dresdner Kreuzkirche zunehmend im Sinne der liturgischen Erneuerung mit Hauptchor und Altarchor in liturgischer Kurrendekleidung mit Kerzen umzugestalten, um damit einen kirchlichen Gegenakzent zu setzen.
Von diesen Bemühungen legen die Christvesper aus den 1930er Jahren, die Christmette von 1936 und die Ostermette von 1940 beredtes Zeugnis ab. In ihrer musikalischen Gestalt fast unverändert, sind sie noch heute feste Bestandteile des Weihnachts- und des Osterfestes in der Dresdner Kreuzkirche.
Die Dresdner Kreuzkirche und mit ihr das gesamte Chorarchiv wurden in der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 zerstört. Auch elf Kruzianer kamen bei den verheerenden Luftangriffen auf Dresden ums Leben.
Zu Mauersbergers Verdiensten zählt die Neubelebung des Chores kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die erste Kreuzchorvesper nach Kriegsende fand am 4. August 1945 in der ausgebrannten Kreuzkirche statt. Zur Uraufführung kam Mauersbergers Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“, ein A-cappella-Werk, entstanden am Karfreitag und -samstag 1945. Darin verarbeitete Mauersberger das ihn bestürzende Erlebnis des brennenden Dresden und der völlig zerstörten Stadt; den Text entnahm er den Klageliedern Jeremias.
Johann Sebastian Bachsh-Moll-Messe leitete Rudolf Mauersberger 1968 als 79-jähriger Kreuzkantor insgesamt drei Mal, zuletzt am 7. Dezember 1968. Neben seinem unermüdlichen Einsatz für den Wiederaufbau des Kreuzchors im zerstörten Dresden nach 1945 ist zu würdigen, dass er sich während seiner gesamten Amtszeit für eine liturgische Einbindung des Chores in die gottesdienstliche Praxis der Kreuzkirche einsetzte, eine umfassende Pflege der Werke von Johann Sebastian Bach und Heinrich Schütz betrieb (jährliche Heinrich-Schütz-Tage des Kreuzchores 1955–1970, Schallplattenaufnahmen für die Schütz-Edition sowie Stiftung der Schütz-Kapelle in der Kreuzkirche) und sich stets auch der zeitgenössischen Musik in Dresden widmete.
Ehrenmitglied der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft wurde er 1964, der Neuen Bachgesellschaft 1969 und der Dresdner Philharmonie 1970. Sein Grab befindet sich in der Familiengruft in Mauersberg (Erzgebirge). Der Ort ehrt ihn durch das Mauersberger-Museum,[12] das ihm und seinem Bruder Erhard Mauersberger, der von 1961 bis 1972 in Leipzig Thomaskantor war, gewidmet ist. Rudolf Mauersberger führte den Dresdner Kreuzchor zu Weltruhm.
Kirchenwiederaufbau in seinem Heimatort
1951 gründete Rudolf Mauersberger eine Stiftung für den Wiederaufbau der ehemaligen Wehrkirche in Mauersberg, die 1889 abgerissen worden war. Die heutige Kreuzkapelle wurde 1953 geweiht. Aus der alten Kirche erhalten und wieder eingefügt wurde die Glocke aus dem Jahr 1571. Der Architekt Fritz Steudtner gestaltete den Innenraum. Ein Zeugnis aus den 1950er Jahren ist der Totentanz im Altarraum von Otto Rost. Die Gesichter und Gestalten lassen Frauen und Männer aus Mauersberg und Umgebung erkennen. Emporen- und Deckenbemalung sowie die Buntglasfenster in der Kreuzkapelle gestaltete Helmar Helas aus Dresden. Der neue Aufbau nahm den ehemaligen Wehrgang auf und verlegte ihn ins Innere der Kirche, um dadurch eine zweite Empore zu erhalten.
Nach ihm ist die nördlich des Großen Gartens im Dresdner Stadtteil Striesen gelegene Rudolf-Mauersberger-Straße benannt.
Chormusik (Werke von Rudolf Mauersberger aus RMWV1, 2, 4, 5, 10, 11) (Aufnahmen 1949–1967)
Peter Schreier – Knabenalt des Dresdner Kreuzchores (darunter aus Werken von Rudolf Mauersberger RMWV1, 5, 7, 10, 11, 401/1, 424, 425) (Aufnahmen 1949–1951)
Rudolf Mauersberger und der Dresdner Kreuzchor (darunter aus Werken von Rudolf Mauersberger RMWV1, 10) (Aufnahmen 1951–1960)
Werke von Rudolf Mauersberger ohne Mitwirkung des Komponisten:
Matthias Herrmann: Rudolf Mauersberger (1889–1971), Werkverzeichnis (RMWV) (= Studien und Materialien zur Musikgeschichte Dresdens. Band 3). 2., gänzl. neu bearb. Auflage. Sächsische Landesbibliothek, Dresden 1991, DNB921402317, urn:nbn:de:bsz:14-db-id3991039024 (XI, 155 S.; Scan der SLUB).
Literatur
Erna Hedwig Hofmann, Ingo Zimmermann (Hrsg.): Begegnungen mit Rudolf Mauersberger. Dankesgabe eines Freundeskreises zum 75. Geburtstag des Dresdner Kreuzkantors. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1963, DNB450305392; mit dem Nebentitel Lebensweg und Lebensleistung eines Dresdner Kreuzkantors in 6., durch Neubearb. veränd. Auflage. Ebenda, 1977, DNB780404793.
Erna Hedwig Hofmann: Kreuzchor Anno 45. Ein Roman um den Kantor und seine Kruzianer. Union Verlag VOB, Berlin 1967, DNB457015284 (Nachauflagen).
Ingo Zimmermann: Rudolf Mauersberger (= Reihe Christ in der Welt. Heft 22). Union Verlag VOB, Berlin 1969, DNB458731048 (Nachauflagen).
Willy Roch: Der Kreuzkantor Rudolf Mauersberger und seine Ahnen.[20] In: Musikgeschichte und Genealogie. (45), Genealogie, Deutsche Zeitschrift für Familienkunde. 25. Jg., März 1976, Heft 3. Verlag Degener, Neustadt (Aisch), ISSN0016-6383, S. 65–84.
Gottfried Schmiedel: Der Kreuzchor zu Dresden. 2., erg. Auflage. VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1980, DNB800393007.
Christine Stephan-Brosch: Kreuzkantor Rudolf Mauersberger. Bilder seines letzten Jahrzehnts 1961–1971. Mit einer Einführung von Matthias Herrmann. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1988, ISBN 3-374-00518-7.
Matthias Herrmann: Kreuzkantor zu Dresden – Rudolf Mauersberger (= Schriften des Mauersberger-Museums in Mauersberg Ortsteil von Großrückerswalde / Erzgebirge. Band 1). Mauersberger-Museum, Mauersberg 2004, ISBN 3-00-015131-1.
Helga Mauersberger (Hrsg.): Dresdner Kreuzchor und Thomanerchor Leipzig. Zwei Kantoren und ihre Zeit. Rudolf und Erhard Mauersberger (= Schriften des Mauersberger-Museums in Mauersberg. Band 2). Druck- und Verlagsgesellschaft Marienberg, Marienberg 2007, ISBN 978-3-931770-46-4.
Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945. CD-ROM-Lexikon, Kiel 2009, 2. Auflage, S. 4806f. online
Vitus Froesch: Die Chormusik von Rudolf Mauersberger. Eine stilkritische Studie (= Dresdner Schriften zur Musik. Band 1). Tectum-Verlag, Marburg 2013, ISBN 978-3-8288-3064-6 (Zugl.: Dresden, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, Diss.).
Matthias Herrmann (Hrsg.): Rudolf Mauersberger. Aus der Werkstatt eines Kreuzkantors – Briefe, Texte, Reden (= Schriften des Dresdner Kreuzchores. Band 1). Tectum-Verlag, Marburg 2014, ISBN 978-3-8288-3317-3.
Marina Lang: Der Nachlass von Rudolf Mauersberger in der SLUB Dresden. In: Sächsische Heimatblätter. Jg. 61 (2015), Heft 1, S. 53–63.
Matthias Herrmann (Hrsg.): Dresdner Kreuzchor und zeitgenössische Chormusik. Ur- und Erstaufführungen zwischen Richter und Kreile (= Schriften des Dresdner Kreuzchores. Band 2). Tectum Verlag, Marburg 2017, ISBN 978-3-8288-3906-9, S. 51–101, 217–293, 298–317.
Enrico Langer: Mauersberger: Ich will euch mal eins sagen! auf YouTube, 18. Februar 2014, abgerufen am 3. Januar 2024 (Arbeitsweise von Rudolf Mauersberger. Seltenes Tondokument aus dem Jahre 1967. Mauersberger kommentiert bei einer Aufnahme der Motette Wie liegt die Stadt so wüst das gerade Gesungene; Laufzeit: 10:00 min).
Einzelnachweise
↑Willy Roch: Der Kreuzkantor Rudolf Mauersberger und seine Ahnen. In: Musikgeschichte und Genealogie. (45), Genealogie, Deutsche Zeitschrift für Familienkunde. 25. Jg., März 1976, Heft 3. Verlag Degener, Neustadt (Aisch), ISSN0016-6383, S. 65–84, hier S. 67.
↑Erna Hedwig Hofmann: Kreuzchor Anno 45. Ein Roman um den Kantor und seine Kruzianer. Union Verlag VOB, Berlin 1967, DNB457015284, S. 57.
↑Vierstimmiges Deutsches Choralbuch, Tonsatz von Rudolf Mauersberger, Kirchenmusikwart der Thüringer evangelischen Kirche mit Vorwort von Rudolf Mauersberger, Verlag von Carl Merseburger in Leipzig (ohne Erscheinungsjahr).
↑Vierstimmiges Deutsches Choralbuch. Die Weisen des Melodienbuches zum Deutschen Evangelischen Gesangbuch. Tonsatz von Rudolf Mauersberger. 4. Auflage. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin [19]48, DNB572599390 (164 S.).
↑Matthias Herrmann: Rudolf Mauersberger (1889–1971), Werkverzeichnis (RMWV) (= Studien und Materialien zur Musikgeschichte Dresdens. Band 3). 2., gänzl. neu bearb. Auflage. Sächsische Landesbibliothek, Dresden 1991, DNB921402317, urn:nbn:de:bsz:14-db-id3991039024 (XI, 155 S.).
↑Rudolf Mauersberger (1889–1971). In: SLUB. Abgerufen am 6. Mai 2020 (zu: Nachlass Rudolf Mauersberger in der Musikabteilung; Literatur; Mauersberger in der Handschriftensammlung; Mauersberger und sein Kreuzchor in Bildern; Klangdokumente vom Kreuzchor unter Mauersberger).
↑Einschließlich Ahnenliste, zurückgehend bis 1537, erstellt von Hans Kröckert und Willy Roch.